Montag, 20. Dezember 2010

Azadpur Sabzi Mandi

Letzte Woche unternahm ich mit Sanyat einen frühmorgendlichen Ausflug. Einen Monat zuvor hatte ich bei meiner Heimkehr aus Amritsar bei Tagesanbruch ein geschäftiges Treiben in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Zuggleisen beobachtet… neugierig geworden merkte ich mir den Namen des nächstgelegenen Bahnhofs, um bald zum Zwecke ausführlicher Entdeckungstouren zurückzukehren. So brachen wir dann jenes frischen Wintermorgens ins zwei Metrostationen nördlich des North Campus gelegene Azadpur auf.

In diesem Arbeiterviertel, dessen Bewohner vor allem in kleinen Werkstätten und der Handwerksindustrie beschäftigt sind, findet man Indiens (einigen Quellen zufolge gar Asiens) größten Gemüsemarkt. Von Knoblauchzehen über rote Beete und Kartoffeln, Spinat und Ingwer bis hin zu grünen Chilischoten wird dort jedes erdenkliche Grünzeug feilgeboten – und zwar in Großabnehmervolumina. Das Angebot besteht aus 68 Gemüse- und mehr als 50 Fruchtsorten, von welchen im Geschäftsjahr 2005 auf dem Azadpur Sabzi Mandi insgesamt etwa 4,5 Millionen Tonnen umgesetzt wurden. Über 3000 Lastwagen transportieren jede Nacht unvorstellbare Massen verschiedener landwirtschaftlicher Produkte in den mehr als 80 Acre fassenden Verkaufsbereich… ein Acre sind übrigens 4840 Quadratyards.. insgesamt erstreckt sich der Markt also über eine Fläche von 3,2 Hektar. Gegründet wurde der Sabzi Mandi 1977 von der Delhi Development Authority (DDA) und 2004 wurde er zu einem „Market of National Importance“ ernannt, da er als größter von Indiens 709 Gemüsegroßmärkten als landesweiter Umschlagplatz für Pflanzenkost dient. Im Jahr 2007 belief sich der Gesamtumsatz der etwa 1700 Großhändler auf 650 Millionen Euro.

Der Handel läuft noch fast genauso ab wie bei Gründung des Marktes in den 70ern: Die Waren werden per Lastwagen aus den verschiedenen Gegenden Nordindiens angeliefert und dann auf Handkarren und Schultern in die verschiedenen Lagerhallen transportiert. Rund um die Uhr finden Auktionen statt, im Rahmen derer kleinere Händler und Einzelhandelskaufleute mit Handzeichen ihre Einkäufe machen. Digital unterstützte Lagersysteme, Computerauktionen oder ausgeklügelte Kühlketten gibt es nicht. Schätzungen zufolge verderben übrigens aufgrund der wenig ausgefeilten Technik bis zu vierzig Prozent der Bodenerzeugnisse, bevor sie den Verbraucher erreichen. Schließlich findet das Gemüse – oftmals durch die Hände mehrerer Zwischenhändler – seinen Weg zum vorletzten Glied in der Nahrungskette: dem Ladenbesitzer bzw. oftmals auch dem Straßenhändler.. nur 5-10 % aller Lebensmittel werden in Indien vom organisierten Einzelhandel (also Ladenketten) umgesetzt. Der Nachteil an der Zwischenschaltung verschiedener Händler ist, dass diese den Großteil des Gewinns einstreichen und aufgrund ihrer monopolartigen Machtstellung einen großen Preisdruck auf den kleinen Bauern ausüben können. Bisher 16 Staaten Indiens haben daher bisher auf Anregung der Unionsregierung Gesetze erlassen, welche es den Farmern erlauben, ihre Produkte direkt an Läden oder die Industrie zu verkaufen, wodurch sie in der Lage sind, die Endpreise selbst zu bestimmen und auch den diesen entsprechenden Gewinn zu machen.

Der Besuch des Markts war sehr interessant, wieder einmal hab ich eines der vielen verschiedenen Gesichter Delhis (und Indiens) kennengelernt. Die dort arbeitenden Menschen waren irgendwie von einem anderen.. gemeinsamen Schlag.. sie sahen sich durch ihre Arbeitskleidung sehr ähnlich und waren scheinbar gut aufeinander eingespielt. Alle Arbeitsabläufe wirkten routiniert, die Prozesse folgten einer nicht nachvollziehbaren Ordnung wie in einem Ameisenhaufen. Obwohl ich wie ein vollkommener Außenseiter schon eine gewisse Aufmerksamkeit erregte, wurde ich nicht besonders häufig angesprochen oder unangenehm gemustert, sondern eher mit einer Art leichten Interesses, einer unerschütterlicher Ruhe gedämpften Überraschung wahrgenommen. Dadurch kam ich mir gar nicht so sehr wie ein Eindringling vor, wie ich erwartet hatte, und konnte mich relativ unauffällig im Strom der ihres Weges gehenden Arbeiter treiben lassen und die Atmosphäre unverfälscht wahrnehmen. Es war wirklich ein besonderes Erlebnis, zu solch früher Stunde in der ersten Morgensonne diesen ganz ursprünglichen Teil Delhis zu erkunden und unter den Arbeitern einen Frühstücks-Chai zu trinken.

Freitag, 10. Dezember 2010

Aarohi Medical Camp

Seit Oktober sind Amélie und ich Mitglieder einer sozialkulturell engagierten Studentenvereinigung namens Aarohi (a cultural uprising). Die seit zwei Jahren bestehende Gruppe veranstaltete zunächst Street Plays, mit denen unter den Studenten ein Bewusstsein für bestimmte gesellschaftliche Probleme geschaffen werden sollte. Seit diesem Semester initiiert Aarohi einmal im Monat ein Medical Camp: Zusammen mit zwei Ärzten, Dr. Murmu und Dr. Prasad, wird einen Sonntagvormittag lang in einem Schulgebäude in einem Slum in Delhi kostenlose medizinische Versorgung für die Bewohner der umliegenden Gegend angeboten.Die Aufgabe der Aarohi-Mitglieder ist es dabei hauptsächlich, während des Monats Spenden einzutreiben, von welchen Medikamente eingekauft werden können. Die Ärzte, welche ihren einzigen freien Vormittag in der Woche für diesen ehrenamtlichen Dienst opfern, untersuchen die Menschen auf alle möglichen Gebrechen: Brechreiz, entzündete Schnitte, beulenartige Geschwülste, Kopfschmerzen, Husten..
Ich war bisher bei einem der Camps dabei.. es fand im Oktober im Bhalasva Slum in Norddelhi statt. Die Fahrt dorthin war schon wie eine Reise in eine andere Welt.. oder zumindest eine andere Stadt. Die nördlich von unserer Heimat G.T.B. Nagar gelegenen Viertel Delhis sind Größtenteils sehr arm, teilweise dörfliche Strukturen verbinden sich mit heruntergekommenen Industrieanlagen und einer Menge Staub und Schlaglöchern. Der Bhalasva Slum hat neben einer tatsächlich ungewöhnlichen Menge Dreck und sehr kleinen, überraschend sauberen Häuschen vor allem eines aufzuweisen: Einen riesigen Müllberg. Die Siedlung zieht sich an den Füßen eines etwa 30 Meter hohen und mindestens 500 Meter langen Hügels aus Abfall entlang. Tümpel aus schwarzer, träger Brühe, in denen Müllfetzen herumtreiben, umgeben das Fort aus Unrat wie ein Burggraben. An den Ufern dieser Wasser liegt die Slumsiedlung, die ersten Behausungen finden sich direkt am Wasser.. eine ungesundere Umgebung kann es kaum geben! Als wir an diesem Szenario vorbei in den Slum hinein fuhren, schien es mir ziemlich zwecklos, hier Medikamente verteilen zu wollen.. in Anbetracht einer im Müll herumwatenden Wildschweinherde schien mir das Unterfangen fast wie Perlen vor die Säue. Wenn die Menschen zwischen all dem Abfall leben müssen, hilft auch die beste medizinische Versorgung auf Dauer nicht!

[ein Ausläufer des Müllbergs mit den ersten Häusern an einem der ekelig schwarzen Tümpel]

Das Camp wurde im Hof einer staatlichen Grundschule abgehalten, die mich stark an „meine“ Schule in Mumbai erinnerte. Meine Aufgabe war es, zusammen mit Shashi, einem Hindi-Honours-Gradierenden, die Patienten zu registrieren: Name, Alter und Gebrechen wurden in eine Liste eingetragen. Der Zweck dieser Maßnahme ist weniger das Anlegen einer Krankenakte als viel mehr, für ein bisschen Ordnung zu sorgen. Den Patienten wurden Nummern zugeteilt, sodass es in der langen Schlange der Wartenden nicht zu übermäßigem Gedrängel kommen konnte und zugleich auch, damit wir einen Überblick über die Zahl der Behandelten behielten.

[Dr. Murmu bei der Untersuchung eines Patienten]

[Nanda gibt Medikamente aus]

Was die Effizienz solcher Maßnahmen betrifft, so lässt sich darüber bestimmt streiten. Es ist natürlich nicht möglich, jedes Leiden bei der ersten Untersuchung gleich umfassend zu diagnostizieren, schon gar nicht mit den begrenzten Mitteln, die einem Arzt in einem provisorischen Camp wie diesem zu Verfügung stehen. Viele Krankheiten würden vermutlich auch mehr als lediglich eine Untersuchung benötigen und definitiv mehr als eine einzige Medikamentengabe. Noch dazu war auch die Auswahl an Arzneimitteln, die Aarohi im Voraus gekauft hatte, beschränkt, so dass nicht alle möglicherweise benötigten Tabletten verschrieben werden konnten. Darüber hinaus hatte ich bei manchen Patienten den Eindruck, dass sie ihr jeweiliges Gebrechen mehr oder weniger erfanden oder zumindest etwas aufbauschten (zum Beispiel durch lautes Husten in dem Moment, in dem sie nach Name und Alter gefragt wurden), um die kostenlose Untersuchung wahrnehmen zu können.. aber das ist nicht schlimm, denn das ist, glaube ich, genau das, was das Medical Camp den Menschen vor allem geben kann: Das Gefühl, Aufmerksamkeit zu bekommen und nicht vergessen zu sein. Einen außergewöhnlichen Sonntag, der Hoffnung und positive Gedanken stiften kann.

Die Stimmung im Medical Camp war daher außergewöhnlich gut, sowohl unter Aarohi-Helfern, als auch unter Patienten wie Doktoren. Es entwickelte sich eine außergewöhnliche Arbeitsdynamik und ich fand alle Leute so unglaublich nett, ein richtiges Wir-Gefühl entstand, dabei traf ich die Leute alle zum ersten Mal! Ich mochte besonders die Haltung der Behandlungsbedürftigen.. auf der Straße kommt es häufig vor, dass mich Bettler im Vorübergehen am Ärmel ziehen, mir hinterherrennen und mich am Arm festhalten, wenn sie um Geld fragen.. gibt man ihnen dann ein paar Münzen, gucken sie mehr oder weniger entrüstet ob der geringen Summe und drehen sich wortlos um, ohne auch nur einen Blick oder eine Geste des Danks oder der Anerkennung sind sie verschwunden. Ich hatte mit Amélie eine Diskussion darüber.. sie meinte, wir geben ja schließlich auch nicht dafür, dass wir ein Danke bekommen.. sondern damit sich die Obdachlosen etwas zu essen kaufen können. Das stimmt zwar.. und ich bin auch nicht übermäßig beleidigt oder entrüstet.. aber ein bisschen krass finde ich’s schon, so einfach gar nichts zu sagen und zu verschwinden. Ein Danke würde ja auch keinem schaden.. naja, aber nützen auch nichts. Jedenfalls ist das im Medical Camp anders, vielleicht weil das ein tatsächlich freiwillig geleisteter Dienst ist, keiner, um den man betteln und bitten muss. Ein ernsthafter Versuch, etwas zu verbessern – kein halbherziges Kleingeldalmosen. Die Menschen wirkten dankbar und lächelten freundlich (vor allem ob meines madigen Hindis). Ein weißhaariger alter Mann begann bei der Registrierung sogar, mir seine komplette Krankengeschichte zu erklären. Vielleicht dachte er, ich wäre einer der Ärzte. Auch nachdem er schon behandelt worden war, kam er mit einem seiner Enkelkinder zu mir zurück und erzählte mir ausführlich von dessen Befinden.. Insgesamt war das Medical Camp wirklich ein Erfolg, es brachte durch einen konstruktiven Vormittag Menschen aus zwei voneinander getrennten Teilen der Bevölkerung zusammen und erzeugte eine gute Stimmung. Keine einzige Person wurde abgewiesen und als das Camp um 14 Uhr vorüber war, hatten Dr. Prasad und Dr. Murmu insgesamt 196 Menschen behandelt!

[auf der Heimfahrt begegneten wir einem wandernden Hanuman]

Donnerstag, 9. Dezember 2010

commercial surrogacy in India

Weil ich nicht zu den zurzeit stattfindenden Examen zugelassen wurde (weil ich keine Roll Number hab.. was der Fall ist, da ich keine Studiengebühren zahle.. was darauf zurückzuführen ist, dass ich unter einem Memorandum of Understanding zwischen meiner Uni und der Delhi University hier studiere.. ein Umstand, der der Tatsache zu verdanken ist, dass ich Austauschstudent bin.. sehr viel scheinbare Logik.. sehr viel Unsinn, wenn man bedenkt, dass ich hierhergekommen bin, um zu studieren und nicht umsonst).. musste ich erbittert darum kämpfen, dieses Semester überhaupt irgendeine Leistung erbringen zu dürfen. Ich entschied mich dafür, im Rahmen der Seminar and Discussion Society eine Präsentation zu halten.. glücklicherweise gelang es mir, die verantwortliche Professorin (bei ihr besuche ich zufällig auch die Environmental Law Vorlesung) davon zu überzeugen, mich auch eine umfangreichere Hausarbeit zum gleichen Thema anfertigen zu lassen. In Kombination mit dem halbstündigen Vortrag kann diese Leistung dann hoffentlich meinen Seminarschein, den ich im Rahmen des Jurastudiums in Deutschland erbringen muss, ersetzen. Und wenn das nicht klappen sollte, hab ich wenigstens den einen Leistungsnachweis sicher, der von Austauschstudenten pro Semester gefordert wird.. hoffentlich. Meine Professorin versetzte das auch nicht gerade in eine ungünstige Lage..einerseits plant sie, mein research paper (unter ihrem Namen) in einer Fachzeitschrift zu veröffentlichen.. das ist (hier?) scheinbar üblich. Andererseits sah sie sich in der Position, relativ hartnäckig von mir zu verlangen, ihr für nächsten Sommer eine Wohnung in Deutschland zu organisieren, wenn sie für einen Zeitraum von drei Monaten im Rahmen eines internationalen Forschungsprogrammes am Max-Planck-Institut in Hamburg arbeiten wird.. sie schien anzunehmen, ein solcher Maklerdienst sei für mich eine Kleinigkeit, da sie, nachdem ich endlich eine Bleibe gefunden hatte, auch noch Ansprüche stellte.. trotz verschiedentlicher Extrawünsche ist es mir nun gelungen, diesen Auftrag auszuführen.. mir blieb ja keine Wahl.

Das Thema meiner Hausarbeit war ganz interessant: “Legalization of Commercial Surrogacy in India: the Assisted Reproductive Technology (Regulation) Draft Bill 2010 in light of the case Jan Balaz v. Anand Municipality” Es ging um das internationale Leihmuttergeschäft anhand des Falls eines deutschen Paars, das in Indien ein Kind hat austragen lassen und anschließend mit verschiedenen rechtlichen Problemen konfrontiert war. Indien ist eines der wenigen Länder weltweit (unter ihnen Großbritannien und die Ukraine), die das kommerzielle Geschäft zwischen kinderlosen Paaren, Ersatzmüttern und auf künstliche Befruchtung spezialisierten Kliniken zulässt. Damit soll der medizinische Tourismus im Land gefördert werden, der laut Schätzungen der Confederation of Indian Industry einen jährlichen Gewinn von 2,3 Mrd. US-$ einbringt. Viele unfruchtbare Paare reisen ins Ausland, um sich dort einer ART-Behandlung (künstliche Befruchtungen und andere Techniken im Zusammenhang mit menschlicher Fortpflanzung) zu unterziehen. Die Entscheidung fällt dabei oft auf Indien, da das Land erstklassige medizinische Versorgung zu bieten hat und weil die Kosten für eine Ersatzmutterschaft hier fast unschlagbar niedrig sind. Für eine Leihmutter zahlt man in den USA durchschnittlich 50.000 US-$, in Indien sind es nur vergleichsweise günstige 10.000 US-$. Der Grund für dieses Preisgefälle liegt wie in anderen Gewerben auch im Stundenlohn der Dienstleistenden – Indien hat eine riesige Anzahl in Armut lebender junger Frauen aufzuweisen, die für geringe Entlohnung bereit sind, ein Kind für ein unfruchtbares doch zahlungsfähiges Paar auszutragen. Dadurch entsteht die Gefahr der Ausbeutung.. es kann kaum sichergestellt werden, dass die Leihmütter sich gänzlich freiwillig für eine Schwangerschaft entscheiden und nicht aus finanziellem Zwang heraus (hm...was heißt dann überhaupt Freiwilligkeit.. irgendwelche more or less compelling factors spielen ja eigentlich in jede Entscheidung mit hinein). Dass sich die jungen Frauen aufgrund von mangelhafter Bildung und Aufklärung den Langzeiteffekten einer oder gar mehrerer Schwangerschaften auf ihren Körper nicht bewusst sind, ist ein weiteres Problem.

Der Fall, anhand dessen ich meine Arbeit aufgezogen habe, ist der des Deutschen Jan Balaz, der zusammen mit seiner Lebenspartnerin im Jahr 2007 nach Indien kam und mit einer indischen Frau einen Vertrag über eine Leihmutterschaft abschloss. Im Januar 2008 wurde aus der Behandlung ein Zwillingspaar geboren. Die Verwaltungsbehörde der Stadt Anand in Gujarat stellte bald darauf Geburtsurkunden für die beiden aus, welche als Eltern Jan Balaz sowie die indische Leihmutter angaben. Das für Ausweise zuständige Amt fertigte zunächst auch indische Pässe für die Kinder an, forderte diese nach wenigen Wochen aber zurück, da Unklarheit herrsche, wer als Mutter der Kinder angesehen werden solle. Im Zusammenhang damit sei man unsicher, ob die Zwillinge überhaupt als indische Staatsbürger gelten könnten. Jan Balaz musste die Pässe seiner Söhne also zurückgeben, forderte aber, man solle ihm diese wieder ausstellen, da eine Verweigerung des Identitätsnachweises eine Verletzung von Art. 21 (Right to Life and Personal Liberty) der indischen Verfassung darstelle. Er brachte vor, die Kinder seien als Inder zu betrachten, da sie von einer indischen Frau zur Welt gebracht worden seien. Des Weiteren seien seine Kinder im Falle einer Verweigerung der indischen Nationalität staatenlos, da Leihmutterschaft in Deutschland verboten ist und daher auch keine Aussicht auf deutsche Staatsangehörigkeit bestehe. Er bezog sich dabei auf § 1 (1) Nr. 7 des deutschen Gesetzes zum Schutz von Embryonen: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer es unternimmt, bei einer Frau, welche bereit ist, ihr Kind nach Geburt Dritten auf Dauer zu überlassen (Ersatzmutter), eine künstliche Befruchtung durchzuführen oder auf sie einen menschlichen Embryo zu übertragen.“. Der Fall gelangte zunächst vor das Oberste Gericht (High Court) des Bundesstaates Gujarat. Die Richter befanden, dass unter dem Indian Evidence Act keinerlei gesetzliche Vermutung gezogen werden könne, die Auftraggeberin einer Leihmutterschaft sei die gesetzliche Mutter der aus dieser Mutterschaft geborenen Kinder. Vielmehr müsse ausgehend von der eigentlichen Bedeutung des Wortes Geburt diejenige Frau als Mutter gelten, die ein Kind tatsächlich zur Welt bringt. Dies sei im Fall der Balaz-Zwillinge die indische Leihmutter. Das Gericht ordnete folglich die indische Regierung an, die Pässe der Zwillinge wieder auszustellen und wies zugleich auf die dringende Notwendigkeit einer gesetzlichen Regulierung des Ersatzmutterschaftssektors hin. Die indische Regierung ging daraufhin in Revision vor dem Supreme Court, welches sich nun mit dem Fall zu beschäftigen hatte. Ein Urteil wurde noch nicht gefällt, jedoch hat das Gericht in Anbetracht der weitreichenden Konsequenzen jeder weiteren Verzögerung für die betroffene Familie in der Zwischenzeit angeordnet, dass den Kindern Indentity Certificates ausgestellt wurden, mit welchen zumindest eine Ausreise aus Indien möglich ist. Im Mai 2010 fertigte die deutsche Botschaft – wohl aus Mitleid – Einreisevisa für die beiden Kinder an, so dass sie ganze zwei Jahre nach ihrer Geburt endlich in ihr (zukünftiges) Heimatland ausreisen konnten. Nach wie vor bleibt jedoch die Frage nach der rechtlichen Elternschaft und der Staatsangehörigkeit der Zwillinge ungeklärt.

[Henni im September in Kamla Nagar.. das ist das Bazaar-Viertel in der Nähe der Uni.. eines Nachmittags, als wir uns dort auf der Suche nach einem Kaffee durch die Straßen trieben, entdeckten wir zwischen einer Filiale der State Bank of India und einer der unzähligen Billig-Boutiquen (eine lebensgroße Papp-Britney-Spears lächelte uns aus dem Schaufenster entgegen) einfach eine Test Tube Baby Clinic.. sie sind überall!]

Im Licht dieser Komplikationen wurde ein erneuter Versuch unternommen, die Materie der kommerziellen Leihmutterschaft rechtlich zu regeln, nachdem ein erster Gesetzesentwurf dazu im Jahr 2008 im Sand verlaufen war. Der Entwurf legt Rechte und Pflichten von Ei- oder Samenspendern, Leihmüttern und intendierten Eltern nieder. Meiner Meinung nach ist der Hauptkritikpunkt der, dass die Leihmütter nicht effizient genug vor Ausbeutung bewahrt werden. Zwar wurde, um zu verhindern, dass Frauen die bezahlte Schwangerschaft (aus Mangel an Alternativen) zu ihrer einzigen und dauerhaften Einnahmequelle machen, die Anzahl der ART-Behandlungen, die eine Frau unternehmen kann, limitiert. Dabei wurde als Obergrenze allerdings ein Maximum von fünf Geburten festgelegt, weswegen der Gesetzesentwurf insoweit als zu kommerziell-kapitalistisch und nur halbherzig um den Schutz der Ersatzmütter bemüht kritisiert wird. Der Assisted Reproductive Technology (Regulation) Act sollte nach jahrelangen Verzögerungen in der diesjährigen Monsun- oder Sommer-Session der Lok Sabha beschlossen werden, was allerdings nicht geschehen ist. Aufgrund der fortbestehenden Rechtsunsicherheit haben verschiedene Botschaften in Indien (darunter auch die deutsche, französische und italienische) Bekanntmachungen an ART-Kliniken im ganzen Land versendet, die dazu auffordern, keine Behandlungen an Bürgern der entsprechenden Nationen durchzuführen.

Dienstag, 7. Dezember 2010

Wagah, die Grenze zu Pakistan

Am folgenden Tag, nach einem späten Tempel-Frühstück, fuhren wir in einem shared taxi gemeinsam mit einigen indischen Touristen ins 30 Kilometer entfernte Wagah, an die indo-pakistanische Grenze. Über das dortige allabendliche Torschließungsritual hört man ja nur das Beste und entsprechend hatten wir große Erwartungen. Diese wurden aber bereits übertroffen, als uns, kaum waren wir am Grenzparkplatz aus dem Auto geklettert, ein kleiner Junge entgegengerannt kam, der kleine Indienflaggen verkaufte. Ob unserer vor Verzücken strahlenden Gesichter und der begeisterten Rufe („unfassbar.. ein verdammter Traum!“) lachte auch der Kleine hocherfreut.. wir kauften beide ein Fähnchen für überteuerte 20 Rupien, das war uns der Spaß wert! Außerdem erstanden wir ein bisschen Knabberkram, um dieses Spektakel gebührend zu feiern und reihten uns in die Horde Schaulustiger ein, die Richtung Grenze walzte.

[Johnny als stolzer Supertourist]

Bedrohlich finster starrende berittene Soldaten sorgten für Ordnung und eine schnurgerade Warteschlange, aufs Genauste wurden wir gefilzt und unsere Taschen durchsucht. Auf Anraten unseres Taxifahrers wandten wir uns kurz vor dem Eingang zur Grenze nach links, wo es „VIP Entry“ hieß.. zeigt man hier seinen Reisepass, wird man als Ausländer auf die VIP-Loge ganz nah am eigentlichen Grenzübergang vorgelassen. Jonas hatte leider weder Reisepass noch sonstigen ID-Proof am Mann. Was bei jeder nichtigen Angelegenheit sonst ein Riesenproblem darstellt (SIM-Karte kaufen / Bücherei benutzen / Museum besuchen ohne Ausweis? unmöglich!), wurde hier zur Nebensächlichkeit und fröhlich wurden wir durchgewinkt.. den Grund für dieses überraschende Entgegenkommen erahnten wir kurz darauf: Diese Grenzparade ist einfach die geisteskrankeste Zurschaustellung von Nationalstolz, die ich je erlebt habe! Auf beiden Seiten des Grenztors sind Tribünen aufgebaut und indische bzw. pakistanische Flaggen zieren die an ein Stadium erinnernde Kulisse. Auch die Stimmung wirkt wie beim Endspiel der Fußballweltmeisterschaft.. patriotische Sprachgesänge, wehende Fähnchen, aufgeregte Schulklassen.. ein Anheizer animiert die Massen per Mikrofon zu Jubelschreien und fordert besonders dann vollen Einsatz, wenn von der pakistanischen Seite laute Freudenrufe zu hören sind. Die ganze Zeremonie gestaltet sich nämlich als eine Art Wettkampf: Wer hat die volleren Tribünen (und Indien kann da sogar mit ausländischen Touristen auftrumpfen, die schön in der ersten Reihe zur Schau gestellt werden), wer singt lauter, wo ist die Stimmung besser? Der Animateur winkte sogar ein paar Gruppen junger Mädchen auf die Grenzstraße, wo sie sich bereitwillig dazu bringen ließen, einen Freudentanz durchzuführen. Die pakistanische Seite sah dagegen tatsächlich ziemlich traurig aus, nur wenige Ränge der Tribünen waren besetzt.. ich frage mich, wie sich das anfühlen muss. Das eigentliche Schauspiel war dann weitaus weniger spektakulär als gedacht: Zunächst brüllte ein indischer Soldat anhaltend in ein Mikrophon, wie lange er die Luft anhalten konnte war schon recht beeindruckend. Ein pakistanischer Soldat schrie auf der anderen Seite des Tors zeitgleich ebenfalls in ein Mikrophon – es ging darum, wer länger und lauter schreien kann, nehme ich an. Welche Nation die längerschreienden Soldaten hat, weiß ich leider nicht, denn wann immer der indische Soldat verstummte, brach – auf Aufforderung des Show Masters hin – allgemeines Jubelgeschrei aus, so dass man von Pakistan herüber nichts vernehmen konnte.

Richtig lächerlich war ein kurzes Intermezzo, welches aus einem mit Vollgeschwindigkeit von Indien Richtung Pakistan über die Grenze rasenden vollklimatisierten Luxusreisebus bestand, welcher vermutlich als symbolisch letztes Gefährt für den jeweiligen Tag den Grenzübergang passieren darf. Nach einer Weile des Rufens und Singens marschierten dann die vermutlich größten Soldaten der indischen Armee (die waren alle annähernd zwei Meter groß), die mit auffallenden Kopfbedeckungen verziert waren, auf das Tor zu, wobei sie ihre Füße auf Augenhöhe hochrissen. Dasselbe Imponiergehabe wurde auf der pakistanischen Seite ausgeführt. Die Pakistanis waren ebenfalls riesengroß und trugen sogar die gleiche Uniform (sowohl Indian als auch Pakistani Army sind ja aus der British Indian Army hervorgegangen, vermutlich deswegen), nur dass sie im Gegensatz zur indischen nicht beige sondern komplett schwarz war.. dadurch sahen diese hünenhaften Soldaten wie unheimliche orientalische Kämpfer oder vielleicht die angsteinflößende Leibgarde Saurons aus. Zu den übertrieben lauten Tönen feierlicher Hintergrundmusik holten beide Länder dann ihre Fahnen ein und das Tor zwischen den verfeindeten Nationen wurde geschlossen. Damit war das Schauspiel vorüber.. leider fehlte der Choreographie jegliche Spannungskurve und Jonas beklagte, dass alles viel zu friedlich über die Bühne gegangen sei. Um dem Publikum ordentlich was zu bieten und die andere Seite richtig zu beeindrucken, hätte man durchaus einige Panzer heranrollen lassen können oder Langstreckenraketen zur Schau stellen können..