Am nächsten Morgen also standen wir wahrlich schon um 6 Uhr auf und bestiegen unser vor dem Guest House bereitstehendes Motorrad, dessen Sattel noch feucht war vom kühlen Morgentau. Dank unserer 4-Schichten-Allzweckkleidung, welche quasi sämtliche Tshirts umfasste, die wir für die subtropischen Klimaverhältnisse Keralas mit uns führten, erschien der Fahrtwind zunächst gar nicht überragend kalt und als wir Munnar gen Norden verließen,befanden wir uns wahrlich in bester Laune! Einen steilen Hang erklommen wir und fanden uns, als wir das noch recht düstere Tal, in welchem Munnar gelegen ist, verließen, plötzlich von den ersten goldenen Sonnenstrahlen beschienen. Durch lichte Haine und vorbei an bunten Tempeln und weiten Teeplantagen glitten wir auf den für indische Verhältnisse überdurchschnittlich gut befahrbaren Straßen, genossen die Aussicht, die morgendliche Ruhe und die so ungewohnte Ungestörtheit. Nach einiger Zeit merkten wir, wie unsere Oberschenkelmuskulatur sowie unsere Finger und Wangen taub und steif wurden und der Fahrtwind uns merklich auskühlte – es war kälter als zunächst angenommen, doch die Sonne gewann stetig an Kraft und so setzten wir unsere Tour zuversichtlich fort. Unser Ziel war die 34 km von Munnar entfernte „Top Station“ mit dem scheinbar sehr eindrucksvollen „View Point“..
Während unserer zweistündigen Fahrt ließen wir ungezählte Serpentinen und etliche Steigungen hinter uns. Außerdem passierten wir zwei im noch fahlen Licht silbrig glänzende, vollkommen unbewegt daliegende Stauseen und einen ebenso still daliegenden, wie tot auf einer Seite schlummernden Elefanten! – die Stimmung der beeindruckenden Naturkulisse wurde von keinem einzigen hupenden Fahrzeug, keinem einzigen lärmenden Menschen gestört, es war traumhaft. Ich sagte doch tatsächlich zu Sanyat, dass ich mir schwer einen schöneren Ort als diesen vorstellen könne.
Um 9 Uhr öffnete sich die Berglandschaft in ein weites Tal, welches von scheinbar brodelndem Nebel angefüllt war, der aus der Tiefe emporzusteigen schien. In allen Richtungen konnten wir in der Ferne, jenseits des Nebels, karge Bergrücken erkennen, welche in starkem Kontrast zu der üppigen Fauna standen, welche uns in unmittelbarer Nähe nach wie vor umgab – selbst in dieser Höhe von 2200 Metern über dem Meeresspiegel waren noch einige Teeplantagen anzufinden, welche von dichten, üppigen Regenwaldbäumen abgelöst wurden, deren Kronen von orangefarbenen Blüten leuchteten. Die ganze Szenerie wirkte dramatisch, wie eine Gegenüberstellung eines friedlichen Garten Eden mit einer feindseligen Einöde.
Wir setzten unsere Fahrt für weitere fünf Minuten fort und erreichten den eigentlichen View Point nach einem 10minütigem Fußmarsch – von dort war die Aussicht noch beeindruckender, da ein tieferer Einblick in das unheimliche Tal möglich war.
Der Wiederaufstieg vom etwas unterhalb der Straße gelegenen View Point entkräftete uns aufgrund mangelnden Frühstücks und vor Kälte fast unbeweglicher Glieder dermaßen, dass wir ihn nur keuchend meisterten. So nahmen wir an einem nahegelegenen Kiosk zunächst einige Instant-Nudeln, Wassermelone und Chai zu uns – unser erster Kontakt mit menschlichen Wesen an diesem Tag! Anschließend machten wir uns an die Abfahrt. Die Sonne stand nun schon hoch am Himmel und ab und zu kamen uns erste, mit Touristen beladene Autos und gar Reisebusse entgegen. Nach einer Weile durfte auch ich mich am Steuern des Motorrads bedienen – mein erstes Mal! Der Kickstart gelang nach allen Regeln der Kunst und ich ließ die Kupplung sanfter kommen, als mir das vermutlich sonst jemals in einem Auto gelungen ist. Das Lenken des schweren, breiten Fahrzeugs war nicht ganz einfach, doch ich vermochte gar, in den zweiten Gang zu schalten und steuerte die Suzuki voller Stolz bestimmt für einen ganzen Kilometer die Serpentinen abwärts. Anschließend übernahm Matrose Sanyat wieder das Kommando. Nur wenige Minuten später ereignete sich dann einer der widerwärtigsten Vorfälle meines Lebens, quasi ebenfalls in krassem Kontrast zum erhebenden Naturerlebnis des frühen Morgens stehend! Wir fuhren gerade mit einem wahrlich moderaten Schneckentempo von etwa 20-25 km/h in eine Kurve ein, Sanyat versuchte auf meine Aufforderung hin, sich ein bisschen in die Kurve zu legen.. – da düste vor uns ein Auto um die Kurve. Obwohl (zumindest meiner Meinung nach) für ein problemloses Passieren genug Platz auf unserer Straßenseite war, riss Sanyat das Steuer einigermaßen ruckartig nach links. Weil noch dazu Sand auf der Fahrbahn lag, kam es, wie es kommen musste: das Motorrad begann zu schlittern und wir fielen bäuchlings vom Motorrad. Noch während meiner Flugphase dachte ich „Ach, das ist also ein Motorradunfall? Gar nicht mal so schlimm.. ich kann ja noch denken.“ Der Aufprall tat natürlich weh, doch zunächst fühlte es sich so an, als hätte ich nur Schürfwunden vom Typus Fahrrad-Unfall erlitten. Allerdings hatte ich auch den Vorteil, weich auf dem unter mir und dem Motorrad begrabenen Sanyat gelandet zu sein. Ich sprang sofort auf und rief wie selbstverständlich „come, get up..fast“ zu Sanyat, der sich daraufhin auch regte. Wir humpelten zusammen zwei Schritte zum Straßenrand und ich riss – wahrlich innerhalb einer halben Minute – meine Wasserflasche heraus, um Sanyats Wunden zu säubern. Zugleich fühlte ich mich aber auch, als könne ich meine Knie nicht benutzen und war daher reichlich immobil. Als Sanyat mir auf meine Aufforderung seinen Ellenbogen zeigte, wich jeglicher Tatendrang von mir – ich konnte seinen Knochen sehen, so tief war die Wunde! Der Anblick lähmte mich dermaßen, dass ich nur noch vollkommen nutzlos mit der Wasserfalsche herumstand. In mir wallte immer mehr Panik auf, vor allem als Sanyat begann, „my legs are dead, they’re gone“ zu stammeln. Der Fahrer des Autos, das uns entgegengekommen war, sowie zwei ausländische Fahrgäste, waren in der Zwischenzeit zu uns gekommen. Der Fahrer begann sogleich, jegliche Schuld von sich zu weisen („You really drove much too fast.“) und das Touristenpaar schien fast so schockiert wie wir selbst. Die Frau bot uns jedoch sofort geistesgegenwärtig Desinfektionstücher an, welche ich jedoch weder auf meine, noch Sanyats Wunden zu pressen wagte. Meine Wahrnehmung war vom Adrenalingehalt in meinem Blut vermutlich getrübt und so weiß ich nicht genau, wie viel Zeit wirklich zwischen den einzelnen Ereignissen liegt – doch es scheint mir, als erreichte fast zeitgleich auch ein vollbesetzter Überlandbus den Unfallort. Sämtliche Passagiere sprangen neugierig aus dem Bus und bildeten einen schaulustigen Kreis um uns. Sanyat murmelte zu diesem Zeitpunkt etwas davon, ihm werde schwarz vor Augen.. ich hielt ihn an den Schultern fest und er fiel stehenderweise in Ohnmacht, wobei er ohne zu wanken vollkommen gerade auf beiden Beinen stehen blieb. Ich rief mit zitternder Stimme und Tränen der Verzweiflung in den Augen, ob mir mal jemand helfen könne, ihn festzuhalten, woraufhin die Touristin etwas näherkam, die Bus-Truppe jedoch nach wie vor nur glotzte. Ich begann, Leute nach dem nächsten Krankenhaus anzuschreien und verkündete dann, man solle mir und Sanyat in den Bus helfen, wir würden die zweistündige Fahrt nach Munnar auf uns nehmen, um in das dortige Krankenhaus zu gelangen. Weiterhin machte niemand Anstalten, uns konstruktiv zu unterstützen – jedoch trat eine der zur Gruppe der Busreisenden gehörenden südindischen Nonnen an mich heran und fragte – allen Ernstes – „What happened? Did you have breakfast already?“ What!? Das kann ja wohl nicht wahr sein! Ich ignorierte sie, mein Gehirn war von der Situation sowieso so überfordert, dass ich meine Wahrnehmungen nicht filtern konnte. Glücklicherweise erwähnte in diesem Moment der Fahrer des Touristenpaares ein nahegelegenes Krankenhaus und erklärte sich bereit, uns bergaufwärts dorthin mitzunehmen. Das Angebot nahmen wir umgehend an – gemeinsam mit dem Touristen-Mann hob ich das Motorrad auf und schob es an den Straßenrand, wo wir es abschlossen; anschließend humpelten Sanyat und ich zum Auto und versuchten, uns ohne Beugen der Knie auf den Hintersitzen niederzulassen. Nach einer Fahrt von etwa fünf Minuten gelangten wir an ein winziges, in der menschenleeren Einöde gelegenes Krankenhaus – wir hatten ein unfassbares Glück, dass TATA für seine Teepflücker einige Krankenstationen unmittelbar zwischen den Plantagen eingerichtet hat. In dem kleinen, irgendwie an ein Kolonialgebäude erinnernden Bungalow trafen wir einige Riksha-Walla-artige, untätig herumsitzende Männer sowie zwei Krankenschwestern vor. Letztere beäugten uns interessiert, nahmen sich unserer aber nicht wirklich an. „Can you please do something? Desinfect our wounds..!?“ rief ich ihnen zu. Die Schwestern waren gut gelaunt, lachten und unterhielten sich auf Malayalam über uns und fragten den Touristentaxifahrer nach dem Hergang des Unfalls. Ich beschloss, die Sache in die Hand zu nehmen und Sanyats Schuhe auszuziehen, woraufhin dieser mich abzuwehren begann und rief, ich solle meine Wunden zuerst säubern lassen. Die Schwestern ahnten wohl, es werde sich ein Bollywood-Drama entwickeln und geleiteten mich daher in einen anderen Raum. Endlich schnitt die Schwester mir dann – nach wie vor mit einer mir vollkommen unverständlichen Seelenruhe im Angesicht des Todes – die Jeans vom Körper und schaute sich meine Wunden an. Ich selbst wagte weder, mein Knie zu bewegen, noch, es eines Blickes zu würdigen, da ich den Anblick weiterer Knochen fürchtete. Die Schwester beschmierte meine Wunden an Knie und Handflächen unbarmherzig mit Jodlösung und begannen währenddessen, mich auszufragen. Die Schmerzen waren ziemlich widerwärtig, doch das Schlimmste war, wenn ich mir vorstellte, dass Sanyats Arm amputiert werden müsse oder er wegen der irreparablen Schädigung seiner Knie nie wieder laufen könne. Ich begann, auf meinen Daumen herumzukauen, während die Schwester dicke Verbände um sämtliche Wunden wickelte. Sanyat aus dem Nebenzimmer rief herüber, wie es mir gehe – ich antwortete wahrheitsgemäß und leicht tränenerstickt, ich wisse es nicht. Daraufhin sagte die Schwester: „Don’t say. You must say you are good – or your husband will cry.“ Diese Bemerkung verlieh der ganzen Situation durchaus eine typisch indische Soap-Opera-Note, welche mich zum Lachen brachte und so rief ich etwas zuversichtlicher „I’m good, I’m good.. but I think they’re not taking us seriously!“ zu meinem Zimmernachbarn und Leidensgenossen herüber. Die Touristen und ihr Fahrer verschwanden in der Zwischenzeit und ließen uns damit mit einigen gutgelaunten Krankenschwestern in der Wildnis zurück. Nun stellte sich die Frage nach dem weiteren Vorgehen. Die Angestellten sicherten uns zu, ein Auto für den Transport ins Krankenhaus in Munnar zu organisieren. Wir warteten für eine halbe Stunde, in welcher wir gezwungen wurden, lauwarmes Wasser zu trinken, dann stiegen wir in den Kleinbus eines lokalen Eisverkäufers, der uns im Gegensatz zu den robusten Schwestern, denen wir zum Abschied hundert Rupien in die Hand drückten, wie rohe Eier behandelte. Die Fahrt ins Tal war recht schrecklich, da die Wunden, nun da der Schock nachließ und die Schmerztabletten noch nicht wirkten, furchtbar zu pochen begannen. Auch wurde uns das Ausmaß des Vorfalls bewusst – in unserem Zustand konnten wir keineswegs wie bisher geplant per Bus ins Flachland hinabfahren und wer wusste überhaupt, welche Verletzungen wir davongetragen hatten. Eine nagende Angst schien sich unserer zu bemächtigen, drum schien Ablenkung angebracht. Wir hörten uns also lauter fröhliche Lieder auf unserem MP3-Player an und zwangen uns tatsächlich, mitzusingen, um uns zu beruhigen.
Gegen 12 Uhr kamen wir am TATA General Hospital in Munnar an, wo wir wie Kriegsversehrte durch die Flure bis zur Notaufnahme humpelten. Dort wurden wir von einem leicht gelangweilten Arzt über den Hergang des Unfalls befragt.. besonderen Wert legte er auf „medico-legal aspects“ und wollte wissen, ob wir die Unfallverursacher seien und wer noch verletzt wurde, scheinbar war ihm die Behandlung unserer Wunden allein nicht spannend genug. Zunächst ließen wir uns gegen Tetanus impfen, anschließend wurden unsere Knie und Sanyats Handgelenk geröntgt und der Arzt warf einen Blick auf Sanyats Ellbogenknochen, befand die Verletzung aber für weniger schlimm als sie aussah und entließ uns relativ bald. Auf dem Weg nach draußen überlegte ich, ob wir nicht besser unsere Wunden alle nochmal angucken lassen sollten, da sie nicht besonders gründlich gesäubert worden waren.. Eine etwas miesepetrige Krankenschwester erklärte sich daraufhin widerwillig bereit, ein zweites „dress up“ vorzunehmen. Das Abreißen der Verbände, die bereits etwas mit den Wunden verwachsen waren, tat schrecklich weh und als sämtliche Verletzungen nun zum zweiten Mal mit Jodlösung abgerieben wurden, waren die Schmerzen wieder genauso unerträglich wie direkt nach dem Unfall. Allerdings war diese Säuberung tatsächlich nötig gewesen, da sich noch relativ viel Staub und Straßendreck in unseren Wunden befunden hatte und die Vorstellung einer Wundinfektion, am besten noch an einem offenen Knochen, war wenig verlockend.
Den Rest des Tages saßen wir in unserer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt in der Sonne auf dem Hotelbalkon und sinnierten über die Einmaligkeit des Lebens und darüber, wie der Motorradverleiher wohl reagieren würde.. es kam schlimmer, als befürchtet – der Fiesling ließ uns für eine „vollkommen unbrauchbare, da verbogene“ Gabel zahlen, die er seinen Angaben nach erst zwei Wochen zuvor in das Motorrad eingebaut hatte.. außerdem für das Rücklicht, das auch von allerbester Qualität gewesen war.. und selbstverständlich für die Taxikosten, die er auf sich hatte nehmen müssen, um das Motorrad vom Unfallort zurückzuholen. Die ganze Abzocke geschah unter dem Mantel der Aufrichtigkeit, wie ein ehrenhafter Geschäftsmann bot der Händler uns an, wir könnten das Gefährt jederzeit selbst in Augenschein nehmen oder uns des Expertenmeinung eines unabhängigen Mechanikers bedienen.. wo man im winzigen Munnar einen unparteiischen Gutachter soll, der mit dem Verleih-Typen weder verwandt noch verschwägert noch befreundet ist, schien uns nicht ganz so klar. So sahen wir die horrende Summe von 2000 Rupien – das sind 35 Euro und dies entspricht wiederum dem gesamten Wert eines Gebrauchtmotorrads! – als Strafe für unsere Leichtsinnigkeit an und ließen den Betrüger zähneknirschend von Dannen ziehen. Als wir uns am Abend von einer Riksha zu einem Restaurant chauffieren ließen, fragte uns der Riksha-Walla mit einem Nicken in Richtung unserer Bandagen, was uns geschehen sei. Wir erzählten, wir seien am frühen Morgen mit unserem Zweirad mit einem wilden Waldelefanten kollidiert und daraufhin von unserem Motorrad geschleudert worden.. Reaktion des Rikshafahrers: Dies könne nicht stimmen, da Waldelefanten sich gewöhnlich nur des Nachts auf den Straßen um Munnar bewegten. Gut zu wissen.