Das Thema Korruption kommt im indischen Alltag sehr häufig auf. Nicht nur die seitenlangen Berichterstattungen der Tageszeitungen über die neusten politischen Bestechungsskandale, Steuerhinterziehungen in Billionenhöhe (several crore rupees) und über „Uncle Judges“ (Richter, deren Verwandte am gleichen Gericht als Anwälte tätig sind und die deswegen unter dem Verdacht der Vetternwirtschaft stehen) rufen einem das hohe Korruptionsniveau immer wieder ins Gedächtnis. Auch im Jurastudium war das indische Korruptionsproblem oft Thema.. Wir haben den Prevention of Corruption Act, 1988 diskutiert und über die Tatsache, dass gegenüber Polizisten gemachte Aussagen vor Gericht generell unzulässige Beweismittel darstellen (da einem police officer nicht getraut und von ihm schlechthin kein objektives Verhalten erwartet werden könne). Vor ein paar Wochen gab es außerdem einigen Aufruhr um Anna Hazare (Anna ist übrigens nicht etwa ein Vorname, sondern heißt „großer Burder“ auf Marathi), einen Sozialaktivisten, welcher in einen Hungerstreik getreten war, um die Regierung dazu zu zwingen, die umstrittene „Jan Lokpal Bill“ gemeinsam mit einem Gremium aus Vertretern gemeinnütziger Organisationen zu überarbeiten und noch dieses Jahr zu beschließen. Das Wort „Lokpal“ bedeutet Ombudsmann. Ein solcher soll zur Bekämpfung von Korruption in allen drei Staatsgewalten und auf allen Ebenen, vom Supreme Court bis zum Geimeinderat, eingesetzt werden. Der entsprechende Gesetzesentwurf existiert schon seit über 40 Jahren und wurde immer wieder modifiziert, verworfen, neu diskutiert und nie beschlossen. Was offensichtlich nach einer guten Idee klingt, wurde im aktuellen Gesetzesentwurf in sehr radikal und damit weniger klugen Vorschriften umgesetzt. Die Mitglieder des Antikorruptionskomitees sollen von Männern mit „unimpeachable integrity“ benannt werden, z.B. von Nobelpreisträgern und senior most Supreme Court Judges. Sie haben nicht nur die Befugnisse eines Polizeibeamten und können etwa, in Zusammenarbeit mit der staatlichen Ermittlungsbehörde, dem Central Bureau of Investigation, welchem sie übergeordnet sein sollen, Haussuchungen durchführen, sondern sind auch Ankläger und Richter zugleich. Es soll den Ombudsmännern zustehen, Gefängnisstrafen zwischen fünf Jahren und lebenslänglich für die so der Korruption schuldig Befundenen auszusprechen. Dass dadurch Grundprinzipien der Demokratie (Legitimation, Gewaltenteilung, fairer Prozess) verletzt werden, ist offensichtlich. Noch dazu wird in dem von einer Gruppe von Nichtregierungsorganisationen eingereichten Entwurf vorgeschlagen, finanzielle Belohnungen auszuloben für Leute, die bei den Ombudsmännern Beschwerde gegen eine andere Person einreichen. Diese Vorschrift würde jedoch, so wird kritisiert, zu einer Atmosphäre des Misstrauens führen. Allgemein scheinen die Sozialaktivisten durch ihre Frustration ob der jahrzehntelangen Unentschlossenheit des Parlaments reichlich über das Ziel hinausgeschossen zu sein. Sanyat meinte außerdem, Indien habe bereits eine ausreichende Anzahl an Institutionen eingerichtet und Vorkehrungen getroffen, um der Korruption entgegenzuwirken. Diese sollten eher optimiert bzw. überhaupt genutzt werden, statt überflüssigerweise ein neues, übermächtiges Gremium einzusetzen.
[zur Illustration: eine Police-Walla-Unifom.. Rohit auf unserer mardi-gras-alias-fat-shukravar-WG-Party, welche Mitte März stattgefunden hat]
Kürzlich haben wir uns auch darüber unterhalten, wie ein korruptes System den Einzelnen gegen seinen Willen korrupt zu machen vermag. Wir redeten über ein Interview mit dem Chief Justice des Supreme Court of India, in welchem er meinte, es sei notwendig für das Bestehen und optimale Funktionieren der Demokratie, dass die Entscheidungsfindung im Ernennungsprozess für High-Court- und Supreme-Court-Judges nicht offengelegt werde. Obwohl der Right to Information Act den Bürgern das Recht gibt, jede staatliche Einrichtung nach Offenlegung ihrer Daten, Entscheidungsprozesse und allgemeiner Informationen zu fragen, stehe dieses Recht nicht in Bezug auf die obersten Gerichte zu Verfügung. Nur durch die Geheimhaltung der infrage kommenden Kandidaten könne politische Einflussnahme und Machtkalkül verhindert werden. Dabei ist doch offensichtlich, dass gerade bei einem solchen hinter verschlossen Türen stattfindenden Ablauf Einiges an politischer Beeinflussung stattfindet. Wir stellten fest, dass das ganze indische System einfach so verkommen ist, dass selbst der höchste Richter im Land, sobald es um das eigene Amt geht, plötzlich unhaltbare Standpunkte einnimmt. Sanyat meinte, dass es schwer sei, in einem korrupten System wie Indien, nicht-korrupt zu bleiben. Wir redeten darüber, dass er selbst ja auch manchmal krumme Wege gehe. An der Faculty of Law ist es beispielsweise normal, sich am Ende des Monats beim Lehrer um attendance zu bemühen. Man braucht 70% Anwesenheit, um für die Exams am Semesterende zugelassen zu werden – sollte man daher unterhalb des Prozentsatzes liegen, fragt man eben entweder den Prof oder dessen Lieblingsschüler, doch gnädigst ein bisschen extra attendance auszuteilen oder man bittet seine Freunde, fake-Anwesenheitsunterschriften zu geben. Ich meinte, es sei ja etwas anderes, gegen (in Anbetracht der Unterrichtsqualität sowieso vollkommen) sinnlose Regeln zu verstoßen, ohne dabei jemandem zu schaden oder sich auch nur amoralisch zu verhalten, oder ob man Leute an Posten kommen lässt, die sie nicht verdient haben oder verhindert, dass Leute Posten einnehmen können, die ihnen zustehen. Sanyat erwiderte, er sei ja auch in anderen Fällen korrupt, besteche z.B. Schaffner wenn er kein Fahrticket habe. Wir stellten fest, dass man, um eine einflussreiche politische Position zu erreichen, von welcher aus man die Bedingungen im Land ändern und effektiv gegen Korruption vorgehen könne, eigentlich unweigerlich selbst korrupt werden muss, denn sonst kann man im politischen System Indiens unmöglich aufsteigen – eine sehr traurige Einsicht. Weil alle anderen es tun, wird man mehr oder weniger selbst zu illegalen Verhaltensweisen gezwungen, da man sonst als naiver Idealist bloß als Benachteiligter endet. Wir redeten darüber, wie man eigentlich sozialen, gesellschaftlichen Wandel einleiten kann. Dazu müsste man wohl – zum Beispiel in Hinblick auf das Bekämpfen von Korruption, aber auch bezüglich der Schaffung von etwas mehr Toleranz für Privatsphäre und Lebensweise der Mitmenschen – die Einstellung und das Moralempfinden von Leuten beeinflussen. Geht das? Wie? Und wer hat denn das Recht, zu entscheiden, „die Gesellschaft muss sich ändern“? Ist eine Gesellschaft nicht wie sie eben ist und wird sich ändern, sobald die Zeit und ihre Angehörigen reif dazu sind? Ist Bildung der richtige Lösungsansatz? Kann man Menschen so ausbilden, dass sie sich aufgeklärte und tendenziell liberal-progressive Gedanken machen? Oder sollte man Anreiz durch bestimmte Gesetze geben? Sind beispielsweise Strafgesetze nicht ein Spiegelbild dessen, was als moralisch verwerflich, unerwünscht und darum als Vergehen angesehen wird? In Anbetracht der bestehenden Antikorruptionsgesetzgebung scheint dies jedenfalls nicht die effektivste Herangehensweise zu sein. Unsere Schlussfolgerung war, dass wir am besten Pamphlete und Denkschriften verschiedenster politischer Richtungen lesen sollten, um zu lernen, wie deren Ansicht nach die Meinung des Volkes geformt werden kann.
Außerdem redeten wir darüber, auf welche Weise die Inder mit der Schlechtigkeit des Systems umgehen. Zunächst führten wir uns dazu das Beispiel unserer Strafrechtsprofessorin Monica Chowdhary vor Augen. Ich mag sie, sie ist die einzige wirklich motivierte und energetische Professorin, die ich in meinen zwei Semestern an der Delhi University kennengelernt habe. Ich glaube, sie mag mich auch, lächelt mir auf dem Campus immer nett zu.. wohingegen sie für die meisten anderen Schüler eine Art Ekel zu empfinden scheint und sie mit beißendem Sarkasmus behandelt. Sie macht fast den Eindruck, als sei sie von der gesamten Welt enttäuscht. Obwohl sie schon Anfang 30 ist, lebt sie – für indische Verhältnisse vollkommen ungewöhnlich – allein und hat außerdem kurze Haare. Sie macht als einzige Professorin guten Unterricht, ist pünktlich und immer vorbereitet, hat Ahnung und diskutiert in ihrer Vorlesung auch mit den Studenten. Allerdings ist sie irgendwie echt krass verbittert und ihr beißender Sarkasmus ist geradezu kontraproduktiv. Beispielsweise sagt sie oft, dass sie ja nicht mal mehr Hoffnung hat, dass die Studenten die für ihre Vorlesung relevanten Fälle lesen und sich vorbereiten, deswegen kündige sie gar nicht mehr an, welche Themen Gegenstand der nächsten Vorlesung sind. Von Anishs Mutter, die ebenfalls Professorin ist, habe ich erfahren, dass „Monica M’am“ (so spricht man Profs hier an.. „Monica M’am“ und „Gautam Sir“) sogar selbst an der Faculty of Law der Delhi University studiert hat – wieso ist sie überhaupt in diese Baracke zurückgekehrt, wo ihr die Zustände doch bekannt waren?! Meine Vermutung ist, dass sie auf höchst idealistische Weise entschlossen war, durch motivierten Unterricht einen Wandel herbeizuführen.. und an diesem Vorhaben musste sie zwangsläufig scheitern wie Don Quijote an den Windmühlen. Anishs Mutter erzählte uns auch, dass vor zwanzig Jahren mal ein Cricket-Match zwischen Indien und Pakistan stattgefunden habe und an jenem Tag allen Ernstes nur zwei Leute zur Uni gekommen seien.. sie selbst und eine einzige Schülerin..die junge Monica Chowdhary! Es scheint, als habe sie schon immer außerhalb des Systems gestanden.
Leute, die denken, sie könnten das System reformieren, indem sie es einfach besser machen als andere, motiviert und diszipliniert ihre Arbeit tun und ihre Mitmenschen dadurch anzustecken versuchen, werden offensichtlich nicht ernst genommen und höchstens ausgenutzt. Sie vergeuden ihre Energie und müssen erkennen, dass ihre positive Arbeitshaltung keinerlei Auswirkung hat, sondern dass sie nur gegen Mauern rennen.. so bleibt am Ende nur ein verbitterter, frustrierter Mensch übrig, und das schon im Alter von 30 Jahren. Es ist das Schicksal der Personen, die den Kampf aufnehmen, obwohl sie dafür zu schwach sind. Andere dieser schwachen Exemplare schlafen einfach lethargisch, schließen die Augen vor den Missständen und versuchen, sich mit einem suboptimalen, eingeschränkten, wenig produktiven und dadurch zu einem gewissen Grade fremdbestimmten Leben abzufinden. Obwohl sicherlich der Großteil der Inder gewisse Missstände und Übel gerne behoben hätte, können und wollen sich nur die allerwenigsten unter ihnen eine Machtposition erringen, von welcher aus sie größere Menschengruppen beeinflussen und einen Wandel herbeiführen können. Der Kampf des Einzelnen gegen die Verdorbenheit des politischen Systems und für einen Einstellungswandel ist zwecklos, er kann nicht gegen die nichtsahnenden, hoffnungslosen Massen ankämpfen, sondern muss diese von seinem Ziel überzeugen.
[eine der wenigen einer Art kritischen Subkultur angehörenden Bands Delhis: The Ska Vengers. wir erlebten sie live, als sie im Rahmen einer Initiative zur Befreiung Binayak Sens, eines wegen vermuteter Nähe zur kommunistischen Partei Chattisghars in Haft befindlichen Arztes, spielten..]
Das krasseste Beispiel überhaupt für widerliche, unmenschliche, rein machtorientierte Methoden ist ein Vorfall, der sich vor einigen Wochen an Sanyats ehemaliger Uni, dem Indian Institute for Information Technology Allahabad, ereignet hat. Der College-Busfahrer hat beim Rückwärtsausparken einen 17jährigen Studenten überrollt, der noch an Ort und Stelle starb. Wie von Seiten der Verwaltung mit solch einem tragischen Unfall umgegangen wird, ist einfach unvorstellbar! Der Direktor griff sich einen der Studenten, der den Vorfall beobachtet hatte, und schleifte ihn zur Polizei, um einen First Information Report (FIR) aufzunehmen. Dem Studenten wurde jedoch keineswegs zugestanden, seine eigene Version des Unfalls zu schildern, sondern musste auf Anweisung des Direktors zu Protokoll geben, der Junge sei ohnmächtig geworden, weswegen er auf der Fahrbahn gelegen habe und der Busfahrer ihn gar nicht habe sehen können. Es ist mir vollkommen schleierhaft, was das für einen Unterschied machen soll, es ist und bleibt ein vom Busfahrer mehr oder weniger fahrlässig verursachter Unfall! Wie kann das dem Ruf der Uni überhaupt großartig schaden?! Und.. wie unmenschlich, abgestumpft, egozentrisch selbstsüchtig, kaltblütig kann man denn sein, dass einem als Direktor zuallererst der Gedanke kommt, dass der gesamte Vorfall vertuscht werden muss!? Die ganze Geschichte entwickelte sich zu einem Riesendrama.. Sanyat wurde von einigen Studenten informiert, die seinen rechtlichen Rat (haha, er ist im zweiten Semester!?) haben wollten. Eine größere Gruppe hatte sich nämlich dazu entschlossen, das Verwaltungsgebäude zu belagern – sehr zu Sanyats Staunen und Freude, da er nach eigenen Angaben während seiner vier Jahre dort vergebens versucht hatte, Leute gegen Missstände wie ungenießbares Essen und veraltete Lehrmethoden zu mobilisieren. Die Kommilitonen hatten damals ihre Unterstützung verweigert, weil sie Angst vor Konsequenzen (wie unbegründet schlechten Noten) gehabt hatten.. scheinbar hatte dieser Todesfall nun bewirkt, dass sie ihre Furcht überwanden. Die Studenten registrierten einen zweiten FIR bei der Polizei, welcher ihrer Wahrnehmung des Vorfalls entsprach, und versuchen außerdem, die Medien zu erreichen, damit neben dem vom Direktor abgegebenen Statement auch eine andere Version an die Öffentlichkeit gelangte. Der Direktor des Instituts versuchte in der Zwischenzeit, die Familie des Toten durch eine freiwillig gezahlte Abfindung zum Schweigen zu bringen..
Die Konfrontation mit solchen Verhaltensweisen und die Realisierung, wie schwierig es ist, in einem in manchen Bereichen komplett verkommenen System selbst mit den besten Intensionen „sauber“ zu bleiben und es trotzdem dabei zu etwas zu bringen, trifft mich immer wieder ziemlich hart. Ich komme mir vor, als wäre ich mit vollkommen eindimensionalen Sichtweisen aufgewachsen, habe ich doch von derlei Missständen und schon gar nicht von den möglichen Ausmaßen und Abgründen der Unmenschlichkeit die meiste Zeit meines Lebens keinerlei Ahnung gehabt. Eine bittere Einsicht, dass das, was man selbst als selbstverständlich und als universell und unverrückbar richtige Lebensweise kennengelernt hat, für den Großteil der Welt leider nicht stimmt. Ich komme mir manchmal vor, als hätte ich 20 Jahre geschlafen. Und zugleich ist da irgendwie ein Trotz vorhanden, dass das doch alles nicht wahr sein kann, dass das doch übertrieben ist. Wer soll denn so bösartig und verkommen sein?