Donnerstag, 18. November 2010

Attentat in Ajaibpur.. und meine (temporäre) Enttäuschung ob der indischen Aggressivität

Letzten Sonntag begaben sich Amélie, Sanyat und ich auf einen kleinen Ausflug. Mit einem urtümlichen Passenger Train (eine Art Vorortzug) fuhren wir ins Nirgendwo, einfach gen Osten aus der Stadt. Erdnussschalenhaufen unter uns generierend lasen wir Zeitung und beobachteten andere Fahrgäste oder bewunderten die beruhigend ländliche Landschaft, durch die unser Zug ruckelte. Gegen ein Uhr stiegen wir in Ajaibpur aus, einem kleinen Dorf, der Bahnhof bestand aus wenig mehr als einem kleinen Ticket Office und zwei Sitzbänken, direkt an den Bahngleisen haben sich einige Dhabas angesiedelt.. das eigentliche Dorf liegt verborgen im Hinterland, die Umgebung besteht einzig aus nicht enden wollenden Maisfeldern.

Wir aßen in einer der Dhabas herrlich simpel und zugleich (etwas zu) feurig scharf zu Mittag, wobei sich ein Nest von Welpen unter unserer Sitzbank balgte und sich mit der Zeit etwa 20 Typen rund um das Lokal versammelten und uns mehr oder weniger unverhohlen beobachteten. Anschließend spazierten wir durch die Felder, wobei wir nur Kühen und ganze Kleinfamilien transportierenden Motorrädern über den Weg liefen.

Gegen 16 Uhr begaben wir uns nach Delhi zurück.. während der gesamten Rückfahrt mit unserem Bummelzug wurden wir von einem erneut sich zusammenrottenden Publikum, hauptsächlich aus Jungmännern bestehend, beäugt und auch fotografiert, was uns doch zunehmend auf die Nerven ging. Als eine ältere Frau die Typen aufforderte, uns ein bisschen in Ruhe zu lassen, wurde sie geradezu angemuckt, was für indische Standards, wo ein von zumindest nach außen hin großem Respekt geprägtes Hierarchieverhältnis zwischen den Altersgruppen besteht, ganz schön krass war. Erste Ahnungen einer aggressiven Atmosphäre.. als wir in Delhi aus dem Zug und auf die Gleise sprangen, um per Metro weiterzureisen, ereignete sich der nächste unerfreuliche Zwischenfall dieses Tages.. wir liefen an einer relativ dicht bevölkerten Straße entlang, als ein widerlicher Fettsack Amélie einfach im Vorübergehen ziemlich abartig anfasste!! Wir drehten uns um und schrien, was das solle.. und diese Kreatur, und das ist das schlimmste, schaute uns einfach nur mit komplett emotionslosem Gesicht..fast herausfordernd in die Augen.. à la „is was?“. So unverschämt!! Ekel und nicht abgebaute Aggression, zweiter Teil. Mit der Metro fuhren wir in die Innenstadt, wo Amélie und ich mit einer uns bekannten Drama-Society ein Theaterstück über Ambedkar und Gandhi anschauten. Ambedkar war eine Persönlichkeit des indischen Unabhängigkeitskampfes. Zwischen ihm und Gandhi kam es zu Meinungsverschiedenheiten, als es darum ging, die Zukunft der indischen Gesellschaft zu gestalten. Während Gandhi das Kastensystem beibehalten und lediglich die Unberührbarkeit abschaffen wollte, war Ambedkar, der selbst ein Kastenloser und damit Unberührbarer war, überzeugt, dass die Diskriminierung auf Kastenbasis weitergehen würde und die einzige Option die Auflösung jeglicher Kastenunterscheidung sei. Das Stück war wegen seiner vielen Gesangs- und Tanzszenen ganz cool, auch wenn ich von den Dialogen leider nichts verstand, da alles in Hindi war.. auch von dem der Vorführung folgenden Tohuwabohu bekam ich leider nicht alles mit, mir wurde später aber erklärt, was abging.. und die Reichweite der auch hier sich entladenden Aggressionen konnte ich sowieso erfassen, ohne den Inhalt des Geschreis zu verstehen. Ein vornehm gekleideter, etwa 65jähriger Mann erhob sich aus seinem Sitz und erklärte, er finde, Gandhi sei in dem Stück viel zu schlecht und nicht wahrheitsgetreu dargestellt worden. Es erhob sich einiges Gemurmel.. der Intendant begab sich daraufhin ans Mirkophon und meinte, er hätte das Recht, durch das Stück auszudrücken, was er wolle.. der dicke Alte erklomm ebenfalls die Bühne und griff sich das Mikro, um weiter und bereits merklich gereizt die Inszenierung zu kritisieren. Immer mehr Stimmen wurden laut, der Regisseur grapschte, den Alten zur Seite stoßend, wieder nach dem Mikrophon und schrie, wobei sich seine Stimme fast überschlug und aus den Lautsprechern nur noch lautes Fiepen erklang: „Censorship! Censorship!“ Einige weitere ältere Herren kletterten on Stage, viele Leute aus dem Publikum erhoben sich und näherten sich wie eine bedrohliche Masse dem Podium. Die Schauspieler, die im Hintergrund auf der Bühne gestanden hatten, drängten ebenfalls zu den Herren heran, so dass sich ein Zirkel aus aufgeregt rufenden und gestikulierenden Menschen bildete. Ich beobachtete das Geschehen mit den anderen zusammen von einer Galerie und war relativ froh darüber, da die ganze Szene mittlerweile einigermaßen gefährlich wirkte und Gewaltausbrüche wahrscheinlich schienen. Schockierend war die Intervention einiger etwa 20jähriger, die neben uns gesessen hatten und nun begannen, politische Parolen zu skandieren.. at the top of their voices! Selbst ein paar unserer Begleiter fingen an, mit aufgeregt-fröhlichen Gesichtern mitzuschreien.. was!? Zum Glück gelang es irgendwelchen Theaterangestellten, die Massen irgendwie zu beruhigen, sodass die meisten Leute den Saal verließen.. der Regisseur gab irgendwelche Statements durch das Mikro.. und ich wollte nur noch weg. Ich war so angeekelt.. es ist ja verständlich und auch unterstützenswert, dass solche religiös und politisch gefärbten Grundfragen die Bevölkerung auch 60 Jahre nach der Unabhängigkeitswerdung noch spalten und dass sie heiß, ja emotional diskutiert werden! Aber warum kann das nicht sachlich und ohne Aggression geschehen? Wieso sind die Menschen in diesem Land so swept away, so über-passioniert? Dass es in einer Umgebung wie dem Vorortzug zu solchen negativen, starken Emotionen kommt, ist traurig genug.. aber dort könnte man als Erklärung vielleicht allgemeine Enttäuschung mit dem Leben und den Bedingungen oder meinetwegen auch Ungebildetheit anführen.. aber wieso kann nicht einmal ein Theaterpublikum, das sich niveauvoll mit einem Thema auseinandersetzen will und sich vermutlich als intellektuell-interessiert und gebildet bezeichnen möchte, eine anständige Diskussion betreiben? Ich war so enttäuscht, so befremdet.. und solche Vorkommnisse sind ja keine Einzelfälle. Einige Tage zuvor hatten wir ein kleines Konzert von Radix in einem Park angehört.. das letzte Lied mussten sie (schon wieder) in Gegenwart einiger police wallas spielen, die auf die Bühne gerannt kamen, um die sich total daneben benehmenden, aggressiven Massen von schlaksigen Halbwüchsigen zu bremsen, die sich als um sich prügelnde Menschenhorde auf die Band zubewegte. All diese Verhaltensweisen machen ein sicheres und freies Leben unmöglich..jeder versucht, den anderem das Leben schwer zu machen und mit seiner Macht zu imponieren.. vom Busfahrer, der sich grundlos weigert, im Schlafabteil das Licht auszuschalten, bis zum Uni-Professor, der einen des Klassenzimmers verweist, wenn man sich nicht ehrfurchtsvoll erhebt, wenn er den Raum betritt.. Mädchen dürfen nach acht nicht auf die Straße, weil respektlose Widerlinge sich gern mal allerlei Freiheiten herausnehmen.. wieso soll ich mich an solche Bedingungen anpassen?! Warum muss die Gesellschaft hier von geheuchelten ultraorthodoxen Sittenvorschriften geprägt sein und von einem Konservativismus, der durch seine Ausmaße die menschlichen Verhaltensweisen unnatürlich und das Leben insgesamt wenig lebenswert macht? Überbevölkerung und Ressourcenknappheit können bestimmt als Faktoren genannt werden – sie erhöhen den (Erwartungs-)Druck auf den Einzelnen und führen zu gesteigerter Reizbarkeit (..ich muss an Experimente mit vielen Ratten auf engstem Raum denken..). Das sind Rahmenbedingungen, die man nicht ändern kann, jedenfalls nicht kurzfristig (man könnte versuchen, das Miteinander zu dezentralisieren.. die ländlichen Gebiete Indiens sind so dünn besiedelt..und die Städte sind der reinste Hexenkessel). Aber es gibt noch viele andere Ursachen für die Unfreiheit des Individuums im indischen Alltag.. zum Beispiel die vollkommene Missachtung des Konzepts der Privatsphäre.. Nachbarn lugen wie unfähige Spione über Hausmauern und äugen misstrauisch wenn man erst spätnachts (22.30h) nach Hause kommt.. was „die anderen“ (die Gesellschaft, die Nachbarn, die Kastenmitglieder, die potentiellen zukünftigen Ehemänner und deren Familien) von einem denken nimmt einen starken Einfluss auf Verhalten und Entscheidungen.. was zu einer Art auf dezente Außenwirkung und gesellschaftliche Unauffälligkeit ausgerichtetem Spießertum führt.. unfassbar auch der Fall, als Sanyat und ich bei ihm daheim und Jodhpur waren und er eine alte Schulfreundin angerufen hat, ob sie sich mit uns treffen wolle.. das ging nicht, weil ihre Eltern auf Ehemannsuche sind und ihre Aussichten sich verschlechtern könnten, wenn bekannt wird, dass sie sich mit einem männlichen Wesen getroffen hat.. wie negativ sich die ewige Angst auswirkt, dass Jungs und Mädchen eventuell unbeaufsichtigt in Kontakt miteinander kommen könnten, wird ebenfalls deutlich: Die Mädchen aus meinem Semester sind alle über 20 Jahre alt und trotzdem verhalten sich viele so unfassbar kindisch und giggelig-kichernd-unsicher-flirty-flirty-typisch-mädchenhaft gegenüber den Jungs, dass es schon nicht mehr schön ist! Das sind diejenigen, die Zeit ihres Lebens auf reinen Mädchenschulen waren und für die Uni die erste gemischtgeschlechtliche Bildungsinstitution ist.. die (ich rede aus Erfahrung) sich innerhalb von 2 Wochen Hals über Kopf verlieben, unsterblich.. in mindestens drei verschiedene Typen (die ihnen durch ein bisschen Small Talk mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben als je zuvor ein anderes männliches Wesen, schätze ich)..das sind ja alles normale Verhaltensweisen.. nur eben ..für 15jährige! Eine weitere Quelle für suppressive Atmosphäre in Indien ist bestimmt die große Zahl an religiösen ..wenn nicht Fanatikern so doch Extremisten mit superkonservativen Ansichten.. die aufgrund der Vielzahl an Glaubensrichtungen zu einem Fundamentalismus und starker Abgrenzung von den anderen Gruppen neigen. Ähnlich ist es um die Identität ethnischer Minderheiten oder Angehöriger einer Region bestellt – wegen der Vielfalt an Kulturen und Traditionen haben sich viele Gemeinschaften gebildet, die durch ein starkes Wir-Gefühl zusammengehalten werden und nicht besonders auf Interaktion mit Angehörigen anderer Gruppen aus sind, auch wenn sie im Alltag überall miteinander konfrontiert werden. Es gibt unzählige und vor allem mir unbekannte Gründe und Erklärungsmöglichkeiten, warum das Leben hier so ist, wie es ist.. nur bin ich manchmal viel zu müde, überhaupt darüber nachzudenken .. dann ist das alles nur noch traurig, hoffnungslos und enttäuschend..

6 Kommentare:

Doro hat gesagt…

Habe es gar nicht ganz fertig gelesen, Vicky, weil's mir gegraust hat. Nur zwei Dinge wollte ich Dir ans Herz legen: 1. Halte Dich zurück bzw. heraus!
2. Zum Thema: man will sich intellektuell gepflegt und kultiviert mit einem gesellschaftlichen Problem beschäftigen - manchmal drängt dieses Problem eben über die reine intellektuelle Beschäftigung gewaltsam hinaus und will gelöst werden. Und verwundert reibt man sich die Augen, wenn man feststellt, dass diese Intellektualität und Kultiviertheit nur ein ganz dünner Firnis ist, in dem Moment nichts nützt, keine äußere Sicherheit bietet, nur eine geistige Sicherheit in Dir drin. Passiert hier in D genauso. Also, pass auf Dich auf!

Doro hat gesagt…

Jetzt habe ich's fertig gelesen. Sei bald wieder fröhlich und genieße die Freundschaften, die sich Dir wertfrei oder sagt man besser "absichtslos" bieten. Bleib Du Dir selbst treu. Ich streiche Dir tröstend über Kopf und Rücken und nehme Dich in den Arm. Kopf hoch!

die Mama hat gesagt…

Ach Vicky, das waren sicher unschöne Erlebnisse, aber das gibt es doch nicht nur in Indien. Müsstest mal sehen, wie sich die Leute hier in Stuttgart in die Wolle kriegen, wenn sie wegen stuttgart 21 demonstrieren. Und wegen 50 Bäumen, die im Schlossgarten gefällt werden, fast aufeinander los gehen.

Hast sicher auch bisschen Heimweh?

Schöne Grüße von Mama.

Anonym hat gesagt…

Meine Liebe,
mal wieder sehr eindrucksvoll und nachfühlbar geschildert, was du berichtest. Bei diesen friedlich höchstens grummeligen Kanadiern kommt mir das alles sehr weit weg vor. Ich hoffe, dass sich die Enttäuschung bald wieder von wunderbaren Erlebnissen ablösen lässt.
Visca grüßt Pricky (oder war das andersrum?)

Anonym hat gesagt…

Hallo vicky, Deine Erzählung klingt doch stark nach Kulturschock. Dabei wurde vor Wochen hier in Stuttgart sehr heftig demonstriert mit Kastanienwerfern und polizeilichen Wasserwerfern mit mehr als 100 Verletzten) wegen des Riesenprojektes Bahnhof "Stuttgart 21" (mit den entspr. Anzeigen). Aber wenigstens ist dabei eine Schlichtung zustande gekommen (sehr zm Mißfallen der Bauherren und der Landesregierung), bei der nochmals alle Details zum Bauprojekt genau betrachtet werden - es ist zu hoffen, daß dabei ein Ergebnis rauskommt, mit dem dann alle einigermaßen zufrieden leben können. Und dann ist dieser Weg doch immer noch viel besser, als Kritiker und Gegner für inkompetent zu erklären und einfach "mundtot" zu machen. So muss Demokratie funktionieren und man muß froh sein, wenn man an solchen Beispielen feststellen darf, daß diese Demokratie noch "lebt" und nicht in einem dekadenten Sumpf untergeht. Auch wenn dieses demokratische Geschäft sich elend in die Länge zieht und halt immer wieder die Arroganz der Führungsschichten durchscheint. Demokratie ist relativ gewaltfrei, aber langwierig und zeitraubend! Wie geht es Dir an der Uni? Was machen die Sprachprobleme während der Vorlesungen. Behandelt Ihr dabei auch ebensolche Themen von Aufständischen und Staatsgewalt usw.? Es müßte doch auch interessant sein, wie der indische Staat mit solchen Problemen umgeht!
Laß es Dir trotz allem gut gehen. Viele Grüße Caddi

Doro hat gesagt…

super Kommentar von Caddi!